Montag, 20. Mai 2013

Wo leben wir?

Vor einiger Zeit las ich diesen Online-Artikel zum Thema Organspende. Darin hieß es, die Organspendebereitschaft der Deutschen sei infolge der jüngsten Skandale um manipulierte Patientendaten stark zurück gegangen. Das ist an sich ja schon schlimm genug. Über 12.000 Menschen warten in Deutschland derzeit auf ein oder mehrere Spenderorgane, von denen es jedoch nur so wenige gibt, dass Ärzte sich dazu hinreißen lassen, für das Wohl ihrer Patienten Daten zu fälschen. Ob das aus purer Nächstenliebe oder zuweilen durch Bestechung geschieht, ist mir zwar nicht klar - jedoch ist das Grundproblem ganz einfach: zu wenige Menschen sind bereit, nach ihrem Tod ihre Organe zu spenden.

Viel mehr schockierten mich jedoch die Kommentare der Leser... Wahrscheinlich sind einige der drastischen Formulierungen der Anonymität des Internets geschuldet, dennoch ist es für mich absolut unverständlich, wie ein Mensch derartig denken kann.

Ich bin mit meinen Organen geboren und das bleibt vorerst auch so. Und wenn, dann will ich gefälligst selber festlegen dürfen, wer meine Organe bekommt. das heißt, die Bewerber stellen sich bei MIR vor. So ein Organ ist zehntausende wert. Einen symbolischen Obulus kann man da wohl auch erwarten, oder nicht? Wir sind hier nicht im Kommunismus, wo alles Allgemeingut ist.

 Dem Verfasser dieses Kommentars wünsche ich insgeheim, dass er eines Tages selber auf eine Organspende angewiesen ist. Ein Organ ist zehntausende Wert? Andere Sorgen hat diese Person nicht? Wieviel ist denn das Leben eines Kranken wert?
Und wenn sich dann die ganzen "Bedürftigen" bei ihm vorstellen (bevor oder nachdem er klinisch tot ist?) - wer ist es wert, ein Organ zu erhalten? Das unschuldige blonde Kind? Na klar! Der vorbestrafte Kleinkriminelle ohne nahe Angehörige? Auf keinen Fall! Die hübsche junge Frau? Sicher. 
Nach welchen Kriterien wird da aussortiert? Sympathie? Vorurteile? Kontostand? (Hallo, Zehntausende Euro!) Da stehen dann die Chancen des zwielichtigen Krumme-Geschäfte-Machers doch besser als die der Hausfrau mit drei Kindern. Selber schuld, was wird sie auch krank!

Schon so oft wurde hier gepostet, daß ein Mensch seine Organe nicht nach seinem Tod spenden kann, sondern daß sie ihm nach Eintritt des Hirntods - also während des Sterbeprozesses - entnommen werden. Ein bißchen Leben muß noch im "Spender" sein...

 Ach was. Man könnte, um jeglicher Paranoia auf Spenderseite entgegenzuwirken, ja auch erstmal abwarten, bis der Tote zu verwesen anfängt, dann ist er vermutlich endgültig hinüber und wacht wirklich nicht mehr auf. Leider wären dann auch seine Organe nicht mehr ganz taufrisch. Hauptsache, man ist in Ruhe zuende gestorben.

Und, jeder stirbt mal.
Dann soll er doch vorher Rücksicht nehmen und kein neues Organ verlangen was nach spätestens 10 Jahren wieder den Dienst versagt und davon absehen...
jeder stirbt mal, füher oder später!
Und so eine Transplantion für ein paar Jahre mehr "nichtstun" kostet unmengen an Geld.

Oh, Verzeihung. Dass ich noch ein paar Jahre leben möchte. Dass ich noch ein paar Jahre länger mit meiner Familie und Freunden verbringen möchte. Dass ich noch ein paar Jahre länger das tun möchte, was jeder Gesunde als sein gutes Recht betrachtet.
Wenn das natürlich GELD kostet... Daran habe ich bisher gar nicht gedacht. Entschuldigung, auch an meine Krankenkasse.
Das Argument "jeder stirbt mal" ist selbstverständlich ebenfalls schlagend. Wurde bestimmt auch schon im Mittelalter gern gebracht, bei Hexenverbrennungen. Oder bei den Römern damals, bei Kreuzigungen. Jeder nur ein Kreuz - und nehmt's nicht so schwer, stirbt doch jeder mal.

Ich sag ja garnichts gegen die Idee der Organspende. Ich sage nur, dass sie definitiv immer missbraucht werden wird.
Wenn ein wirklich wichtiges Gut selten ist, dann wird es immer zuerst der Elite zur Verfügung gestellt. Wie das dann zustande kommt, ob durch Knebelverträge, verdrehte Logik oder schlichte Bestechlichkeit ist doch egal.
Es wird niemals genug Spendeorgane geben, das ist garnicht möglich. Und der kleine Mann wird hinten anstehen. Wie immer.

 Ja, die Elite. Die Elite der Auserwählten, denen es dermaßen schlecht geht, dass sie sich auf der Warteliste von Eurotransplant ganz nach vorn geschoben hat. Da liegt sie ganz hochmütig in ihren Krankenhausbetten, durchlöchert von Kanülen, am Leben erhalten von Maschinen, und sonnt sich im Glanz ihres Triumphes über den kleinen Mann.
Der arme kleine Mann. Immer gern wird er zitiert, der kleine Mann von der Straße. Wer ist das überhaupt? Der oft gebeutelte, allerorts ausgenutzte, stets übervorteilte kleine Mann. Gibt es den auch außerhalb stereotypischer Weltbilder, über die man sich am Stammtisch austauscht?
Für mich ist der kleine Mann der, der kleinlich denkt.

Ich habe auch für mich entschieden, dass ich meine Organe eher dem örtlichen Zoo zur Fütterung überlassen werde, als dem Arzt, der einen reichen Empfänger durch Korruption auf einen oberen Listenplatz verbrochen hat, den nächsten Luxus-SUV zu finanzieren.
Klingt hart, aber solange Betrug nicht wenigstens annähernd ausgeschlossen ist, werde ich lieber Löwenfutter.

 Davon abgesehen, dass der örtliche Zoo höchstwahrscheinlich nicht besonders dankbar für eine solche Spende wäre... Im Grunde spottet diese Aussage jeglicher Beschreibung.

Selbst WENN jemand krank und verzweifelt ist und alles Erdenkliche dafür geben würde, um am Leben zu bleiben (dazu gehört nunmal auch Geld) - das ist doch absolut nachvollziehbar. Die meisten von uns wollen gesund sein, ganz normal leben, nicht jeden Tag damit rechnen müssen, einer schlimmen Krankheit zu erliegen. Niemand sucht sich das Schicksal aus, Medikamente mit drastischen Nebenwirkungen nehmen zu müssen oder sein Dasein an Maschinen angeschlossen zu fristen. Niemand möchte das. Kein mittelloser Student, kein Familienvater, kein reicher Banker, kein kleines Kind, keine Künstlerin - so gut wie jeder Mensch möchte solch ein Leben vermeiden. Das liegt jedoch nicht in unserer Hand. Und wenn man dann, durch welche Umstände auch immer, eben DOCH dieses Leben führt, auf der Warteliste, krank, sterbend, hoffend... Welchen Strohhalm würde man nicht ergreifen? 

Mit ein paar Millionen Euro auf dem Konto - was wäre mir das Geld wert, könnte ich mir damit womöglich ein Weiterleben erwerben? Bin ICH dann ein Verbrecher, wenn es um Leben und Tod geht? Ist ein Arzt ein Verbrecher, der (selbstlos oder nicht) seinen Patienten helfen will, weiterzuleben?
Oder ist nicht vielleicht derjenige ein Verbrecher, der es sich in seiner schwarz-weißen Weltanschauung bequem macht, jegliche Verantwortung von sich weist und sich hinter Halbwahrheiten und reißerischer Meinungsmache versteckt, um nicht seine Organe zu spenden?

Das sind Fragen, deren Beantwortung mir leicht erscheint.