Dienstag, 12. Juni 2012

Frust.

Während der Zeit im Krankenhaus und zum Teil auch jetzt noch stieß ich immer wieder an meine körperliche und seelische Belastungsgrenze. Trotz vieler Lichtblicke, Hoffnung und Beistand von vielen Seiten war ich oft regelrecht verzweifelt und frustriert. Es gab ganz unterschiedliche "Frust-Quellen":

Mein Körper gehorcht mir nicht.

Oft verwirrten mich unerwartete Reaktionen meines Körpers auf gewohnte Dinge. 
Einmal wachte ich nachts auf, wollte zur Toilette gehen, kein Thema. Ich stand auf - plötzlich drehte sich alles, mir war übel. Schmerzen im Oberbauch, sehr heftig. Ich wurde immer mal wieder nach der Schmerz-Skala befragt (1 bis 10; 10 ist so schlimm wie man es sich nur vorstellen kann). Das gerade war eine 8. Ich klingelte nach der Schwester, konnte kaum sprechen vor Schmerz, stammelte wohl irgendwie, dass ich ins Bad wolle. Jetzt bloß nicht auch noch in die Hose machen... Sie wollte mir helfen, ich stand auf - und erwachte eine Minute später auf dem Boden liegend. Wow, so fühlt es sich an, ohnmächtig zu werden. Die Schmerzen erreichten jetzt die 9, ich konnte kaum sehen, hörte nur Stimmen aus der Entfernung. "Sie ist zusammengebrochen." "Schnell, in den Rollstuhl!" Irgendwelche Hände packten mich, hievten mich hoch. Schmerzen. Nicht in die Hose machen!!  Nochmal ein Blackout, dann lag ich im Bett, eine Stimme sprach zu mir (muss die Ärztin gewesen sein). Man gebe mir jetzt ein Schmerzmittel, dann werde es besser. Ich wimmerte, konnte nur mit Mühe einzelne Worte hervorbringen. Bloß nicht meinen Bauch berühren, sonst sterbe ich. Nach gefühlten Stunden wirkte das Zeug, ich war schweißüberströmt, mir war kalt und heiß zugleich. Ich kam mir entwürdigt vor. Wenigstens nicht in die Hose gemacht. Trotzdem den ganzen nächsten Tag geheult.

Einmal saß ich recht entspannt nach einem ruhigen Samstagmorgen mit meinem Besuch zusammen, freute mich, nicht allein zu sein. Von einem Moment auf den anderen wurde mir übel. Um die anderen nicht zu beunruhigen, behauptete ich, mal eben auf die Toilette zu müssen. Dort angekommen, übergab ich mich ins Waschbecken - Blut überall. Ein Rückschlag. Bei einer Magenspiegelung einige Tage vorher war festgestellt worden, dass sich aufgrund des Leberversagens Krampfadern in Magen und Speiseröhre gebildet hatten. "Blutungen lebensgefährlich" hatte ich irgendwo gelesen, Horrorszenarien schossen mir durch den Kopf.
Schnell saubergemacht, den Besuch abgewimmelt ("Ich bin sehr müde, tut mir leid"), danach zum Stationsarzt. Er sagte, das könnten auch lediglich Nachwirkungen der Magenspiegelung sein und schickte mich ins Bett. Ich solle mich melden, wenn es schlimmer würde. Wurde es nicht.
Ich ärgerte mich, kam mir hysterisch vor. Und allein war ich nun auch noch. Scheiße.

Ganz besonders entmutigend und frustrierend waren auch die ganz alltäglichen Dinge, die ich plötzlich nicht mehr allein erledigen konnte. Manchmal war ich einfach völlig entkräftet, konnte kaum einen Löffel festhalten, eine Schublade öffnen wurde zur fast unschaffbaren Aufgabe, mir einen Tee vom Getränkewagen im Gang holen ein Vorhaben, das höchstens nach stundenlanger Planung (Tasse mitnehmen, Hausschuhe anziehen, Perfusor vom Netzkabel nehmen und unter den Arm klemmen, Zimmerschlüssel und Taschentücher nicht vergessen... habe ich jetzt die Tasse dabei?) erledigt werden konnte. 
Eines Tages war ich gerade wieder von einer solchen Weltreise zurück, lag erschöpft im Bett, wollte nur noch etwas fernsehen und dann schlafen. Mein linker Arm war an den Perfusor angeschlossen, die rechte Hand zugeschwollen von einer entzündeten Kanüle. Plötzlich flog ein riesiger Falter zum Fenster herein, flatterte vorm Bildschirm herum, dann direkt auf mich zu. Ich konnte mich nicht wehren, er flog knapp an meinem Kopf vorbei, ich hörte ihn nur noch außerhalb meines Sichtfeldes brummen. Klasse. Können Insekten jemanden auslachen? Wegen sowas die gestresste Nachtschwester zu rufen erschien mir irgendwie unangebracht. Also wieder aufstehen... Vorsicht mit der schlimmen Hand. Perfusor vom Netzteil abziehen (um mich weiter als 2 Meter vom Bett wegbewegen zu können... die Dinger haben scheinbar einen so schwachen Akku, dass sie keine ganze Nacht ohne Strom bleiben können... Wenn der Akku fast leer ist, piepen sie so laut, dass man es auf der ganzen Station hört), Insekten-Vernichtungs-Werkzeug suchen (zusammengerollte Zeitschrift)... jetzt war das Vieh natürlich weg. Einfach so. Kein Brummen, kein Flattern, nichts. Nach 20minütiger Suche legte ich mich wieder hin. 
Da war er wieder. 
Ich resignierte.

Im Laufe der Zeit hatte ich eine gewisse Routine für "schwache Tage" entwickelt, doch auch heute noch kann es vorkommen, dass mir die Tränen kommen, wenn mir ein Kugelschreiber unters Sofa rollt oder ich eine Wasserflasche nicht aufschrauben kann.

Wofür halten die mich?

Viele verschiedene Ärzte, Schwestern und Pfleger stellten mir Fragen. Oft mehrmals am Tag dieselben Fragen, immer wieder. Mehr als einmal dachte ich "Steht das denn nicht alles in meiner Patientenakte?". Dass nicht jeder Arzt auf dem aktuellen Stand war, nicht jeder für alles zuständig, nicht jeder ein Leber-Spezialist... Diese Zusammenhänge wurden mir erst im Nachhinein klar. Bis dahin war auch diese Fragerei eine Quelle der Frustration.
Über meine Symptome Auskunft zu erteilen, war natürlich nicht schlimm. Jedoch musste ich auch sehr unangenehme, peinliche oder einfach beleidigende Fragen beantworten. Es gibt viele verschiedene Dinge, die ein akutes Leberversagen verursacht haben könnten, abgesehen von meiner Vorerkrankung. Diese mussten die Ärzte erstmal ausschließen. Da stand dann also der Prof. Dr. Soundso vor meinem Bett, glotze auf mich herab und fragte mit hochgezogener Augenbraue:

"Waren Sie in letzter Zeit im Ausland?"
"Trinken Sie gern mal Alkohol?"
"Haben Sie schonmal Drogen genommen?" ... "Wirklich nicht?" .... "Sie können es ruhig zugeben..." ... "Nicht mal auf einer Party etwas angeboten bekommen?"
 "Haben Sie häufig ungeschützten Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern?"  (abschätziger Blick auf meinen Freund)  "Haben Sie sich schonmal auf HIV testen lassen?" (wieder zum Freund gucken) "Dann machen wir das mal."
"Und gegen Ihre Migräne nehmen Sie einfach irgendwelche Pillen?"
"Wie sind denn sonst so Ihre Lebensumstände?" (nochmal den Freund von oben bis unten mustern).

Nach diesem Gespräch war ich völlig vor den Kopf gestoßen. Wofür hielten die mich, nein uns, denn? Natürlich, ich war in ziemlich desolatem Zustand. Meine vor Monaten noch knallrot gefärbten, dann halbherzig schwarz übertönten Haare standen mir in allen Richtungen vom Kopf ab, überall zierten mich blaue Flecken und Blutspritzer. Mein Freund, übrigens mit festem Job und geregeltem Einkommen, sah auch nicht fit aus: völlig fix und fertig, immer schlaflos vor Sorge, jeden Tag schnell in Jeans und T-Shirt ins Krankenhaus gehetzt sobald ich ihn brauchte, abends dann oft noch zur Arbeit bis spät in die Nacht, blass war er, abgekämpft... Aber wir sind doch keine Junkies!
Später stellte sich der Prof. Dr. als DER Leber-Spezialist heraus. In meiner Akte las ich, dass er genau die Dinge angeordnet hatte, die dafür sogten, dass es mir besser ging. Und bei den nächsten Begegnungen war er immer sehr nett.
Trotzdem.

Warten, Warten, Warten...

Einen großen Teil der Zeit verbrachte ich damit, auf irgendetwas oder irgendjemanden zu warten.
Morgens sagte mir die Schwester mein "Tagesprogramm" an: Visite ab 9Uhr, Termin zum Ultraschall 10.30Uhr, vorher wird nochmal Blut genommen und am besten gleich noch schnell das EKG. Ich solle auf dem Zimmer bleiben und mich bereit halten. 
Ich war sowas von bereit! Und zwar schon seit 8.45Uhr, vorsichtshalber. Bis 10.20Uhr kam niemand. Ich musste dringend pinkeln. Okay, nur schnell eine Minute ins Bad, es würde ja nicht gerade jetzt jemand...
"Wo ist denn die Patientin aus Zimmer 13???"
Ich beeile mich, reiße die Badezimmertür auf - niemand mehr da. Klasse.
So lief das im Grunde jedes mal, ich habe mehrmals die Visite verpasst auf diese Art. Der Arzt ging dann zum nächsten Patienten und schaute mit etwas Glück irgendwann gegen Abend nochmal vorbei. Oder gar nicht. Oder ich war gerade wieder im Bad.

Aus Versicherungsgründen durfte ich zu den meisten Untersuchungen nicht allein gehen (könnte mich verlaufen oder unterwegs hinfallen etc). Manchmal konnte ich auch gar nicht, sei es wegen Kreislaufproblemen oder weil ich gleich im Bett hingebracht werden sollte (zur Magenspiegelung z.B., damit sie mich hinterher gleich wieder wegbringen konnten). Es musste also immer ein Transport bestellt werden, der mich über das (unglaublich große) Klinikgelände schieben durfte. Meistens im Rollstuhl, ob ich wollte oder nicht. Leider waren diese "Transporter" zeitweise total unterbesetzt, so dass ich nach einer Untersuchung mitunter fast 2 Stunden noch im Wartebereich rumhängen durfte, bis einer der Jungs auftauchte und mich zurück auf die Station schob. Irgendwann kannte ich sie sogar schon alle. Einer war auch 27, wie ich. Der hatte total Mitleid und fragte mich alles mögliche, während er mich gefühlte 2km durch Gänge, Korridore, Schleusen, Aufzüge, Rampen und Türen rollte. Ein anderer schob mich schwindelerregend schnell durch die Cafeteria, am Kiosk vorbei, ins Nebengebäude und gab stumm meine Akte an der Anmeldung zur Untersuchung ab. Zum Lungenfunktionstest durfte ich sogar im Krankenwagen fahren, cool. Das Gelände ist wirklich sehr groß. Wir holten unterwegs gleich noch eine andere Patientin ab und machten Smalltalk. Der Typ erinnerte mich an meinen Fahrlehrer.
Am tollsten war mein Ausflug nach Berlin-Mitte, zum Psychosomatischen Konsil, das konnte nur dort gemacht werden... Der Krankenwagen war nicht irgendsoein billiges Klappergestell wie einige andere, sondern ein richtiger, wo auch Charité außen dransteht. Ich weiß nicht, warum mich das so beeindruckte. Vielleicht wegen der Klima-Anlage. Oder weil ich so mal ein bisschen was von der Stadt sehen konnte. Oder ich war doch noch etwas benebelt. In der "echten Charité" (nicht nur der Campus Virchow-Klinikum, wo meine Station war) kam mir alles super toll vor. Wie in einem Hotel. Sogar mit Wasserspender im Wartezimmer. Nach einer Stunde Warten auf die Ärztin war es schon weniger toll. Aber der Blick aus dem Fenster - traumhaft. Da lag eine Broschüre auf einem der Stühle. Eine Studie für pädophile Männer, es würden noch Probanden gesucht. Ich setzte mich ans andere Ende des Raumes und wartete.
Doch nicht so toll hier, auch recht warm. Blöde Warterei. Inzwischen kam schon Godot vorbei, er sei dann jetzt da. Meine Ärztin aber nicht.
Nach dem zehnminütigen Gespräch sollte ich noch einen Fragebogen ausfüllen, man rufe nun auch gleich den Rücktransport für mich.Der kam dann schon nach eineinhalb weiteren Stunden. Unterwegs noch eben eine andere Patientin holen. Dauerte bloß dreißig Minuten. Abendessen verpasste ich. Hatte noch eine Lakritzstange aus dem Kiosk und ein Brötchen vom Frühstück in meinem Schrank gebunkert. Trotzdem doof.

Fortsetzung folgt...

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